Flucht in die Illegalität

Flucht in die Illegalität

Bis zum Beginn der Deportationen konnte rund ein Drittel aller Jüdinnen und Juden aus Deutschland fliehen. In Berlin ging ihre Zahl um mehr als die Hälfte zurück, von rund 160.000 auf etwa 73.000. Mit dem Verbot der Auswanderung aus Deutschland nahm der NS-Staat den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern die letzte Möglichkeit, das Land regulär zu verlassen.

Schon nach Kriegsbeginn im September 1939 war ein legaler Grenzübertritt kaum noch möglich. Um ihre Deportation zu verhindern, blieb den Jüdinnen und Juden neben der Selbsttötung nur die Flucht in den Untergrund. Das bedeutete ein Leben als sogenanntes „U-Boot“ in der Illegalität, um der Verschleppung in Ghettos und Vernichtungslager zu entgehen. Die meisten von ihnen versuchten mit einer falschen Identität ein möglichst normales Leben zu führen, nicht aufzufallen. Andere versteckten sich in eigenen beziehungsweise fremden Wohnungen oder in Kleingartensiedlungen.

Um im Untergrund zu überleben, musste eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein: Dazu gehörten neben viel Glück starke Nerven, die Fähigkeit, unter Stress und Druck schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen sowie Schlagfertigkeit und Mut. Gewisse Vorteile bot die Stadt selbst, durch ihre Größe und die damit verbundene Anonymität.
Es brauchte auch nicht-jüdische Berlinerinnen und Berliner, die den Juden Lebensmittel besorgten und gegebenenfalls falsche Papiere organisierten.

Wer nicht immer wieder Zugriff auf ein relativ sicheres Versteck hatte, konnte sich jedoch der Verhaftung auf Dauer kaum entziehen.

Susanne W. versteckte fast drei Jahre lang bis zum Kriegsende eine jüdische Frau in ihrer Wohnung in der Putlitzstraße 17, nur wenige hundert Meter vom Deportationsbahnhof entfernt.

„Ich wusste genau, wie gefährlich es für uns beide war. Wenn man uns entdeckt hätte, wären wir den Nazis in die Hände gefallen. Für mich war es selbstverständlich, einen Menschen, der sich in äußerster Not befand, aufzunehmen. Meine Wohnung lag im vierten Stock. Ständig befürchtete ich, der neben mir wohnende Blockwart könnte sie entdecken.
Ich hätte sie niemals so lange verstecken können, wenn mir nicht viele andere Menschen geholfen hätten.“

Für jeden Untergetauchten waren bis zu zehn, bisweilen auch erheblich mehr, nicht-jüdische Unterstützer aktiv. Wer half, riskierte viel: Mitwissern drohten Haftstrafen oder vorübergehende Einlieferung in Konzentrationslager.

Von den Helfern wissen wir wenig. Man hat erst sehr spät angefangen, sich für sie zu interessieren. Schätzungen zufolge müssen über zehntausend Menschen am Überleben jüdischer Verfolgter beteiligt gewesen sein.

Wie wichtig den Juden gegenüber freundlich eingestellte Mitmenschen waren, beschreibt Leo Baeck, Rabbiner und einer der bedeutendsten Vertreter des deutschen liberalen Judentums.

„Ohne die moralische Unterstützung wäre das Leben weit schwieriger zu ertragen gewesen. Den Juden zu helfen, war manchmal die einzige Art, auf die ein Deutscher den Nazis gegenüber seine Opposition auszudrücken vermochte. Gelegentlich fand ich vor meiner Tür auch einen Korb Obst von namenlosen Spendern. In der überfüllten S-Bahn trat eines Sonntags ein Unbekannter ganz dicht an mich heran und fragte: „Kommt jetzt Tiergarten?“. Dann fügte er im Flüsterton hinzu: „Ich bin vom Lande und habe ein paar Eier in Ihre Tasche gesteckt“. Ein andermal ließ ein Mann auf der Straße einen Umschlag fallen, hob ihn auf und reichte ihn mir mit den Worten: „Sie haben etwas verloren“. Der Umschlag enthielt ein Päckchen Lebensmittelkarten.“

Wie häufig solche Gesten der Solidarität waren, lässt sich heute nicht mehr sagen. Aber es gab sie. Berichte wie die von Leo Baeck zeigen, dass das Lamento, man habe doch nichts machen können, nicht stimmte. Trotzdem blieb der Großteil der Bevölkerung untätig.

Es gab natürlich auch Denunziationen. In einem Schreiben an die Gestapo hieß es…

„Ich habe nämlich seit einiger Zeit bemerkt, dass sich eine Jüdische heimlich bei Leuten im Haus versteckt und ohne Stern geht. So was muss doch sofort unterbunden werden, schicken Sie mal gleich früh so um 7 Uhr einen Beamten und lassen sie dieses Weib abholen.“

Die Zahl der Denunziationen wegen Umgangs mit Juden war derart angestiegen, dass sie den geordneten Behördenverkehr störten.

Sich öffentlich zu zeigen, unterwegs auf der Straße zu sein, konnte zur Enttarnung führen. Als Morris Weissmann am 24. November 1943 eine neue Unterkunft suchte, erkannte ihn eine Frau in der Calvinstraße. Er wollte flüchten, doch sie schrie ihm hinterher: „Ein Jude, ein Jude, ein Spion, nehmt ihn fest“. Passanten schlugen mit Händen, Stöcken und Spatenstielen auf ihn ein. An der Straße Alt-Moabit Ecke Thomasiusstraße kam der aggressive Mob zum Stehen. Weissmann wurde festgenommen.

Doch selbst wenn ein Quartier gefunden war, bedeutete dies kein wirkliches Aufatmen. In welcher Anspannung die Untergetauchten lebten, zeigt folgender Bericht.

„Ich legte meine knarrenden Lederschuhe ab und schlich barfuß oder in Strümpfen umher. Nach einigen Tagen war ich imstande, einigermaßen lautlos dahinzuleben. Ich hatte gelernt, Porzellanteller unhörbar aufeinanderzusetzen, die Badewanne ohne Plätschern einlaufen zu lassen, wohl getarnt hinter Tüllvorhängen, die Fenster zu öffnen und zu schließen, die Stellen im Korridor zu vermeiden, wo die Diele am lautesten knackte, Husten und Niesen zu unterdrücken, und wenn sie sich nicht mehr unterdrücken ließen, schnell den Kopf unter ein Kissen zu stecken, aufzuräumen, auszukehren und Geschirr zu spülen, so behutsam und leise, als wären die Möbel und das Geschirr aus hauchdünnem Glas gemacht.“

Das alles war notwendig, um neugierigen, regimetreuen Nachbarn keine Hinweise auf ihre Existenz zu geben.

Noch komplizierter wurde es, wenn sich mehrere Menschen in einer Wohnung versteckt hielten. Esra Feinberg erinnert sich daran.

„Wenn es klingelte und es nicht das vereinbarte Klingelzeichen war, haben wir uns natürlich versteckt. Mein Bruder und ich verschwanden im Kleiderschrank, mein Vater hinter dem Ofen und meine Mutter blieb in der Wohnküche, als Besuch.“

Nur ein kleiner Teil der Berliner Jüdinnen und Juden konnte sich durch Untertauchen vor Deportation und Ermordung retten.

Von den rund 160.000 Juden, die 1939 in Berlin lebten, zählte man 1945 gerade noch um die 6.500. In Tiergarten konnten sich etwa 80 jüdische Nachbarn verstecken. Schätzungen gehen davon aus, dass von den jüdischen Berlinerinnen und Berlinern, die den Weg in den Untergrund wählten, circa 2.000 nach Jahren der Illegalität die Befreiung erlebten. Dazu kamen einige Tausend, die mit nichtjüdischen Ehepartnern oder -partnerinnen verheiratet waren, was einen Teil von ihnen schützte.

Die Zahl der tatsächlich Untergetauchten lag vermutlich wesentlich höher. Doch viele von ihnen flogen auf. Durch dumme Zufälle, aber mehr noch durch Verrat.

Als die offiziellen Wege zu keinen Erkenntnissen mehr führten, wussten sich die Behörden mit Spitzeln, leeren Versprechungen und Erpressung zu helfen.

So wurden Juden genötigt, als sogenannte Greifer andere Juden zu verraten. Dafür sollte ihnen der Schutz schon internierter Angehöriger als überlebenswichtiger Anreiz erscheinen. Natürlich wurden diese leeren Versprechungen nicht eingehalten. Kaum auszudenken, in was für eine moralische Zwickmühle die Betroffenen gerieten.

Ein Urteil über die Handlungen der Greifer zu fällen ist schwer. Es bedarf immer einer Betrachtung der gesamten Situation der Verfolgung, Bedrohung und Ermordung vieler Familienangehöriger. Die Täter hatten damit die Entscheidung über Leben und Tod letztlich an die Opfer delegiert. Als nach Ende des Nationalsozialismus die Juden, die in der Illegalität überlebt hatten, für ihr erlittenes Leid Entschädigung einforderten, mussten sie weitere Demütigungen hinnehmen. So unterschied das Bundesentschädigungsgesetz von 1953 zwischen haftähnlichen Lebensbedingungen, die anzuerkennen seien, und einem Leben in der Obhut wohlgesinnter Menschen. Denn Menschen, die durch die Hilfe anderer der Shoa entkommen konnten, stand keine Entschädigung zu. Diese Regelung verdeutlicht, dass die Gesetze von Juristen gemacht wurden, die auch schon vor 1945 im Amt waren. Erst 1959 wurde das Gesetz angepasst und diese Unterscheidung außer Kraft gesetzt.

« Die Heilige‐Geist‐Kirche
Der Güterbahnhof Moabit »