Sie stehen nun an der Turmstraße 21 vor dem ehemaligen Haupteingang des Krankenhauses Moabit, das 2001 geschlossen wurde. 1872 ließ Stadtrat Rudolf Virchow auf 75.000 qm ehemaligem Ackerland in Baracken ein provisorisches Seuchenlazarett errichten.
Damals platzte die Stadt aus allen Nähten. Durch die beengten Wohnverhältnisse, die große Armut und die mangelnden Hygienebedingungen, hatten Seuchen und Krankheiten ein leichtes Spiel. In der Bevölkerung gab es Widerstand gegen die Errichtung der Seuchenstation, da viele fürchteten, sich zu infizieren. Aus dem Lazarett entwickelte sich das Krankenhaus Moabit, das über die Jahrzehnte einen sehr guten Ruf erlangte. So arbeitete hier in den 1880ern der Mediziner Robert Koch an der Verbesserung von Desinfektions- und Sterilisations-Möglichkeiten. Paul Ehrlich führte bahnbrechende Versuche durch, um Tuberkolose zu behandeln. Der Ausbau von wichtigen Abteilungen schritt schnell voran. So wurde 1891 das Bakteriologisch-Serologische Institut eingeweiht. Bald darauf folgte die chirurgische Abteilung, samt einem Operationshaus, sowie ein Röntgen-Institut. Ab 1904 bildete die städtische Krankenpflege ihre Mitarbeiterinnen hier in Moabit selbst aus.
Bis in die 1920er Jahre hatte sich der gute Ruf verstetigt. Die Fortschrittlichkeit des Moabiter Krankenhauses war über Berlin und Deutschland hinaus bekannt. Unter den Professoren Moritz Borchardt und Georg Klemperer wurden die Chirurgische und die Innere Abteilung zu Universitätskliniken. Prof. Borchardt erfand unter anderem einige chirurgische Instrumente, die in abgewandelter Form noch heute verwendet werden. Lenins Berater riefen 1922 die beiden sogar persönlich an das Krankenbett des russischen Staatsschefs. Bei dieser Gelegenheit ließen sich auch fast alle anderen führenden sowjetischen Politiker von Klemperer untersuchen. Trotz der Inflation und der Wirtschaftskrise, die Ende der 1920er Jahre begann, wurde das Areal weiter ausgebaut, sodass es bald das wichtigste Krankenhaus nach der Charité war. Hier trafen sich Pioniere der Wissenschaft, Sozialreformer und kreative Außenseiter der Medizin. Ärztinnen und Ärzte, die den Mut hatten, alte Tabus zu brechen, bekamen hier ihre Ausbildung. Dazu gehörte damals auch sozial-medizinisches Engagement. Viele von ihnen waren Mitglied des Vereins sozialistischer Ärzte, in dem Linke aller Schattierungen mitarbeiteten. Sie boten Aufklärung und Beratung, kümmerten sich um die Behandlung von Geschlechtskrankheiten und die Geburtenkontrolle. Außerdem widmeten sie sich dem Kampf um die Minderung der Wohnungsnot und den Ausbau kommunaler Gesundheitsfürsorge.
Geradezu blicken Sie auf das Haus E, das zeitweise als Verwaltungsgebäude und Wohnhaus für Pflegerinnen diente. Rechts davon befindet sich mit der Front direkt an der Turmstraße das Haus B. Hier waren die Wohn- und Schulungsräume des Personals untergebracht. An der Fassade hängt die Gedenktafel für Dr. Georg Groscurth. Er war Oberarzt und leitete ab 1939 das Moabiter Krankenhaus. 1941 gründete er gemeinsam mit Robert Havemann eine Widerstandsgruppe, die sich ab Juli 1943 „Europäische Union“ nannte. Es gelang ihnen, jüdische Mitbürger und Deserteure der Wehrmacht zu verstecken, beschaffte ihnen Ausweise, Nahrungsmittel und Informationen. Im Herbst 1943 wurden sie verraten. Die Anklage lautete „Vorbereitung zum Hochverrat“ und „Feindbegünstigung“. Groscurth wurde zum Tode verurteilt und am 8. Mai 1944 enthauptet. Später können Sie noch mehr über ihn hören. Am Morgen des 1. April 1933, dem Tag des reichsweiten Boykotts gegen jüdische Einrichtungen und Geschäfte, fuhren Lastwagen der SA auch auf das Gelände der Klinik, um die jüdischen Ärzte abzuholen. Dass sich einige mitten in Operationen befanden, war dabei kein Hindernis.
Die medizinisch-technische Assistentin Edith Thurm war anwesend, als Professor Goldstein aus seinem Dienstzimmer verschleppt wurde und berichtet
„Ich habe noch genaue Erinnerungen an den Tag, wie Goldstein abgeholt wurde. Es war alles so schrecklich. Ich war noch im Zimmer – die SA-Männer standen da und er saß am Schreibtisch und sollte mitkommen, da hat er noch gesagt: „Erlauben Sie, dass ich meine Patienten noch meinem Oberarzt übergebe?“ Dieser war nicht im Zimmer. Da sagten sie zu ihm: „Jeder Mensch ist zu ersetzen, Sie auch!“ – fertig aus! Die haben ihm nicht mehr die Möglichkeit gegeben. Er musste mit, noch mit anderen zusammen. Jedenfalls mussten mehrere dann auf diese offenen Lastwagen, einfach solche Bretterwagen. Die waren reingefahren ins Klinikgelände und da mussten die rauf über Leitern. Da haben sie die Ärzte draufgeladen und sind mit denen im Regen einfach so abgefahren! Das war mein letzter Eindruck, das letzte, was ich von Goldstein gesehen habe. Schrecklich, ganz schrecklich!“
Wenige standen den jüdischen Ärztinnen und Ärzten beiseite. Ein paar Medizin-Praktikanten aber waren mutig genug, eine Art Warndienst zu entwickeln. Wenn die SA anrückte, alarmierten sie die gefährdeten Kolleginnen und Kollegen, die aus Personalmangel noch im Dienst verblieben waren. In letzter Minute konnten diese dann noch über die Hinterausgänge und Fenster zur Straße fliehen.
Nach den Entlassungen der jüdischen Ärztinnen und Ärzte folgten Razzien gegen politisch verdächtige Schwestern, Pfleger, Küchenfrauen und Krankenhausangestellte. Das entsprach in etwa 10 % des Personals. Für eine Festnahme genügte es bereits, SPD-Mitglied oder in einer Gewerkschaft organisiert zu sein. Für Betroffene kam das einem Berufsverbot gleich.
Die Gynäkologie musste am 30. März 1933 für Monate geschlossen werden, weil kein Arzt zur Verfügung stand.
Der gute Ruf, der auch den vielen jüdischen und der Arbeiterklasse verbundenen Ärzten zu verdanken war, verschlechterte sich ab 1933 drastisch. Ein militärischer Ton, medizinische Pfuscher, Intrigen und Zwangssterilisationen hielten Einzug. 1935 wurde die Klinik in Städtisches Robert-Koch-Krankenhaus umbenannt. Dies konnte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es wegen den zahlreichen Entlassungen nur noch wenige qualifizierte Ärzte gab. Vom Bezirksamt war verlangt worden, schwarze Listen mit Kündigungsgründen aufzustellen. Infolgedessen wurden zwei Drittel der Ärzte entlassen. Die renommierten Professoren Borchardt und Klemperer hatte man in den Zwangsruhestand versetzt. Unter Androhung drakonischer Strafen wurde ihnen, wie auch ihren ehemaligen Kolleginnen und Kollegen, untersagt, jemals wieder das Gelände zu betreten.
Unerfahrene, aber nationalsozialistisch gesinnte Ärzte übernahmen Chef- und Oberarztstellen. Sie trugen nicht selten sogar ihre braunen SA- oder schwarzen SS-Uniformen unter den weißen Kitteln. Und es gab einen neuen Arzt, bei dessen Operationen die Patienten reihenweise starben: Das SS-Mitglied Dr. Kurt Strauß, der bald auch „der Pfuscher“ genannt wurde. Er operierte beispielsweise schon bei Verdacht auf bösartige Geschwulste und amputierte falsche Gliedmaßen. 1939 galt er wegen seiner Kunstfehler als untragbar und wurde nach Prag versetzt.
Die von den jüdischen Ärzten aufgebauten Sozialstationen wurden entweder geschlossen oder zu Zwecken des NS-Regimes umfunktioniert. Jetzt ging es beispielsweise in der Abteilung für Alkoholkranke vor allem um ihre Erfassung und Unterteilung in „schwere“ und „leichte“ Alkoholiker. Die als schwere Alkoholiker erfassten Patienten galten als „erbkrank“ und wurden massenhaft zur Zwangssterilisierung gezwungen. Hierbei machte sich Professor Erwin Gohrband einen zweifelhaften Namen, denn ihm und vielen seiner Kollegen reichten die einfachen Eingriffe nicht. Sie bevorzugten Maßnahmen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten.
Trotz umfassender Überwachung, um überall Regimegegner und -kritiker zu entlarven, entstanden auch im Krankenhaus Moabit Gruppen von Andersdenkenden und Gegnern der Nationalsozialisten. Im Dachgeschoss des heute nicht mehr bestehenden Ost-Pavillons war das Labor von Dr. Groscurth und seinem Kollegen Havemann. Dieses war der medizinisch-technischen Assistentin Ilse Kunze unterstellt. Dort bildete sich bald „Kunzes Kaffee Salon“ kurz „KKS“. In der Neurologischen Abteilung im West-Pavillon, auch ein nicht mehr bestehendes Gebäude, gab es ebenfalls einen geheimen Zirkel: Sobald der Kaffee fertig war, wurde im Haus unter dem Losungssatz: „Der Versuch läuft“ herumtelefoniert. Alle Eingeweihten wussten dann, dass ein Treffen begann, an dem Medizinisches und Politisches offen besprochen werden konnte. Nazi-Gegner trafen sich hier, um sich frei auszutauschen und Pläne zu schmieden. Die Ziele waren zunächst das Verstecken von „Illegalen“, zumeist politisch Verfolgten und Juden. Es wurden sicherer Wohnraum, Nahrungsmittel, falsche Papiere und die Flucht ins Ausland organisiert.
Ab 1941 kam innerhalb der Gruppe Sabotage in der Rüstungsindustrie und Aufklärung der Bevölkerung dazu. Dabei war es hilfreich, dass sich unter den Patienten von Doktor Groscurth zahlreiche Politiker befanden: Der Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess und dessen Bruder Alfred, aber auch ein Staatssekretär im Außenministerium sowie ein SS-Obergruppenführer. Auf diese Weise erfuhr Groscurth ganz nebenbei von geplanten Kriegsaktionen und Verbrechen. Die Widerständler wussten das zu nutzen.
So entstand ein weit verzweigtes Netz im Untergrund trotz der lebensgefährlichen Bedingungen: Es wurden sogar Kontakte zu französischen und russischen Widerstandsgruppen unter Zwangsarbeitern aufgebaut. Soldaten konnten kriegsverwendungsunfähig geschrieben und Sendegeräte, Verbandsmaterial und Medikamente geschmuggelt werden. Dass ihre Arbeit nicht unbemerkt blieb, war auch den Widerständlern klar. Im September 1943 erfolgten Verhaftungen, Folter, Prozesse und Todesurteile gegen Georg Groscurth und einige andere.
Im Krieg wurden während eines Flächenbombardements 1943 viele Gebäude zerstört. Die übrig gebliebenen stehen mittlerweile unter Denkmalschutz. In der Nachkriegszeit errichtete man einige Neubauten.
Ausführlichere Fakten können Sie im Buch über das Krankenhaus Moabit „nicht misshandeln“ nachlesen, das Sie in der Dorotheenstädtischen Buchhandlung in der Turmstraße 5, gegenüber des Amtsgerichts Tiergarten, kaufen können. Der Titel des Buches hat eine sehr berührende Bewandtnis. Denn im sogenannten „wilden“ Keller-KZ General-Pape-Straße teilten sich zwei jüdische Ärzte eine Zelle, die schon am 1. April 1933 von der SA dorthin verschleppt wurden: Dr. Erich Simenauer, Chirurg am Urban-Krankenhaus und Professor Kurt Goldstein, Leiter der Neurologischen Abteilung des Krankenhauses Moabit. Sie konnten den dort üblichen Prügelattacken einigermaßen entgehen: Ein SA-Mann nämlich, dem Dr. Simenauer kurz zuvor den Blinddarm entfernt hatte, wollte sich erkenntlich zeigen und schrieb „nicht misshandeln“ auf den Laufzettel Simenauers.
Das ehemaligen KZ ist heute ein Gedenkort, liegt direkt neben dem Bahnhof Südkreuz und kann besucht werden. Außerdem können Sie im Rathaus Tiergarten die Dauerausstellung „nicht misshandeln“ besuchen. Sie beschäftigt sich mit der Geschichte des Krankenhauses Moabit.
Foto: Landesarchiv Berlin
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