Die Synagoge als Sammellager

Die Synagoge als Sammellager

Zitat von Joel König, der für einige Zeit im Hansaviertel untergetaucht war.

„Die Levetzow-Synagoge lag an einer stark belebten Straßenkreuzung, gerade neben dem Postamt NW 87. Bei aller geschäftigen Eile konnte den Berlinern nicht entgehen, dass sich die Berliner Juden, jung und alt, in das Gotteshaus schleppten, beladen mit Rucksäcken und Handgepäck. Als ich mich später aus meinem Versteck herauswagte, sah ich mit eigenen Augen, dass sie, die Berliner, es sahen.“

Im Oktober 1941 informierte die Gestapo, das war die politische Polizei des NS-Staates, die Jüdische Gemeinde über die bevorstehenden Deportationen. Sie wies die Gemeinde an, ihre Synagoge zu einem Sammellager für rund 1.000 Menschen umzugestalten. Stühle wurden entfernt, Stroh zum Schlafen ausgestreut.

Die Mitarbeitenden der Gemeinde mussten auch den Abtransport ihrer Mitglieder, Bekannten und Nachbarn vorbereiten. Sie notierten z.B., was die Leute an Hab und Gut mitgebracht hatten. Auch koordinierten sie, wer beim Gepäcktragen mithalf und wer anderswo mit anpackte. Nicht zuletzt kümmerten sich die Gemeindemitarbeiter um das Essen und stellten das Ordnungspersonal.

Vermutlich wurde diese Synagoge als Sammellager ausgewählt, weil sie recht groß und nur wenig beschädigt war.

Von Oktober 1941 bis Oktober ’42 gingen von hier aus die sogenannten „Osttransporte“ los, also die Deportationen in die Konzentrationslager. Die Menschen wurden von der Gestapo zu einem bestimmten Termin in das Sammellager bestellt. Wer nicht freiwillig kam, wurde gewaltsam aus seiner Wohnung abgeholt.

Aber das sollte es nicht gewesen sein: Ab dem 27. Februar 1943 wurde die Synagoge im Rahmen der sogenannten Fabrikaktion erneut als Sammellager missbraucht. Die meisten Verhafteten waren nur wenige Tage dort. Es handelte sich um die Festnahme von ca. 11.000 jüdischen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen direkt in den Betrieben.

Bericht von Hans Gerhardt R. Er erlebte in Auschwitz die Befreiung.

„Als ich am 24. Oktober 1942 von der Arbeit nach Hause kam, waren die Eltern und Geschwister nicht da und die Wohnung versiegelt. Ich fuhr in die Levetzowstraße, um sie zu suchen. Als ich am folgenden Tag nochmal in die Levetzowstraße fuhr, um Winterbekleidung zu bringen, musste ich selbst im Sammellager bleiben. In der Nacht mussten wir durch die Straßen zum Güterbahnhof Grunewald laufen. Es gab Leute, die steckten uns Stullen zu, was verboten war, andere schimpften und andere klatschten Beifall, dass die Juden endlich aus Berlin rauskamen.“

Bis August 1942 wurden die Menschen aus der Levetzowstraße zum Bahnhof Grunewald gebracht, von wo es ebenfalls in die Konzentrationslager ging. Sie mussten zu Fuß gehen, wurden in Lastwagen der Polizei oder in Möbelwagen gefahren. Im Herbst kam der Güterbahnhof Moabit als Deportationsort dazu. Durch das Sammellager Levetzowstraße wurden ca. 37.500 Menschen geschleust. Die meisten waren nur wenige Tage dort.

Neben der Synagoge gab es zwei weitere große Sammellager: Eines im Jüdischen Krankenhaus im Wedding, ein anderes in der Großen Hamburger Straße in Mitte. Dort war wiederum das Jüdische Altenheim zu einem Gefängnis umgebaut worden. Kurzzeitig wurden mehrere kleinere Sammellager eingerichtet, wie das in einer Reithalle der Kaserne in der Feldzeugmeisterstraße, hier in Moabit.

Die meisten Menschen, die in der Levetzowstraße untergebracht waren, ahnten, womit ihre Deportation enden würde. Als letzten Akt der Selbstbestimmtheit wählten einige von ihnen den Freitod. Sie sprangen von einer der Emporen auf den Marmorboden in den Tod oder ließen sich durch das Fenster der oberen Empore auf den Bürgersteig vor dem Gebäude fallen.

Bericht von Margot Wolf

Bericht von Margot Wolf, die wieder freikam, da die Firma, bei der sie arbeitete, um ihre Freilassung gekämpft hatte. Sie brauchten Margot Wolf zur Zwangsarbeit.

„Es war Ende September, Anfang Oktober 1942. Wir kamen zunächst in die Levetzowstraße ins Sammellager. Das große Gepäck wurde in einem großen Raum gestapelt, so blieb einem nur eine kleine Tasche als Handgepäck. Es ging an langen Tischen vorbei. Dort musste man Ausweise, Lebensmittelmarken und anderes Wichtiges und Wertvolles abgeben. Danach wurden wir auf verschiedene Räume und Ecken der ehemaligen Synagoge aufgeteilt. Ich lagerte mit meiner Familie oben auf der Empore, dort, wo nach altem religiösem Ritus die Frauen Platz nahmen. SS in schwarzer Uniform lief herum. Es war eine grauenvolle Atmosphäre. Leise diskutierte ich mit meinem Bruder darüber, ob es später auf dem Transport eine Möglichkeit zur Flucht gab. Oben bei uns auf der Empore, wo es keine Bänke gab, sah man die kleinen Fenster der Synagoge. Ein junges Ehepaar kletterte heimlich hinauf und stürzte sich in den Tod.“

Doch es gab auch Widerstand. Der Elektriker der Synagoge, der 31 Jahre alte Werner Scharff, rettete zahlreiche Menschen. Wie, das hören Sie bald an anderer Stelle.

Der damals 17-jährige Horst Selbiger überlebte den Holocaust

Der damals 17-jährige Horst Selbiger überlebte den Holocaust, zeitweise getarnt als Hitler-Junge. 70 Jahre lang sprach er nicht darüber. Nun schildert er seine Erinnerung an das Sammellager am Tag der sogenannten Fabrikaktion am 27. Februar 1943.

„Wir wurden mit rund 1.500 bis 2.000 Juden in die ehemalige Synagoge Levetzowstraße eingeliefert. Als wir dort von der SS sehr unsanft von den LKWs ausgeladen wurden, standen Frauen auf der Straße und klatschten Beifall.
Innen bekamen wir die Transportmarken zur Deportation nach Auschwitz um den Hals. Wer so etwas erlebt, den Zug zur Gaskammer aus nächster Nähe gesehen und erlebt hat, den Tod vor Augen, bleibt ein Gezeichneter sein Leben lang.
Wir vegetierten, Körper an Körper, im ausgeräumten Gebetssaal, der Empore und in anderen Räumlichkeiten der entweihten Synagoge. Die sanitären Verhältnisse waren unbeschreiblich.
Und bei all diesem Zetern, Heulen und Zähneklappern traf ich meine Freundin Esther wieder. Mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen, unfähig, all dieses Elend zu verstehen.
Zwei Tage später, am 1. März, wurde mir Esther entrissen und mit insgesamt 1.722 anderen Juden abtransportiert. Sie wurden von der Levetzowstraße zum Deportationsbahnhof Moabit in aller Öffentlichkeit durch die Straßen getrieben. Dann wie Schlachtvieh in die Güterwagen verladen, jeweils etwa 100 Personen. Und sie gingen auf eine traurige Fahrt in das Vernichtungslager Auschwitz. Wahrscheinlich wurde der gesamte Transport schon am 3. März ins Gas geschickt.
Ich stand am Abgrund der Menschheitsgeschichte und das Trauma machte mich stumm. Eine Stummheit, die noch Jahrzehnte in die Zeit nach der Befreiung hineinreichen sollte.“

Foto: Stadtarchiv Stuttgart

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