Sie stehen nun vor der Jagowstraße 13. Hier lebte eine von vielen jüdischen Familien Moabits: die Gottfelds beziehungsweise Lewins. Ihr Nachkomme Benjamin Gidron, der als pensionierter Professor in Israel lebt, zählt 37 Holocaustopfer in seiner Familie. Die meisten von ihnen haben hier in Moabit gewohnt, sie waren – wie auch die nicht-jüdischen Deutschen – Teil der Gesellschaft, Nachbarn unter Nachbarn. Einige der Familie konnten aber rechtzeitig fliehen. Ihre Wohnungen befanden sich hier und in der Jagowstraße 20.
In der Hausnummer 13 lebten Sally und Emma Gottfeld, geborene Lewin, mit ihren fünf Kindern. Sie waren die Großeltern von Benjamin. Die Gottfelds wurden in den 1890er Jahren geboren und stammten aus der Region um Posen, die bis 1919 zu Deutschland gehörte. Sally diente während des Ersten Weltkriegs in der kaiserlichen Armee, wurde verwundet und erhielt das Eiserne Kreuz, weil er auf dem Schlachtfeld seinen Vorgesetzten gerettet hatte. Als Klempnermeister führte er im zweiten Hinterhof des Hauses eine Werkstatt, in der er einige Arbeiter beschäftigte.
Im April 1933 wurde Sally aus unbekannten Gründen von der SA verhaftet, über mehrere Wochen lang in einem sogenannten wilden KZ in der General-Pape-Straße am heutigen Bahnhof Südkreuz gefangen gehalten und schwer misshandelt. Nach seiner Entlassung konnte er kaum noch arbeiten und bemühte sich um eine Einreiseerlaubnis nach Palästina. Er erhielt sie nach vielen verzweifelten Versuchen und floh mit seiner Familie im Dezember 1933 nach Haifa.
Dort war das Leben hart. Sally machte sich selbstständig, verlor durch einen Betrüger einen Großteil seines Geldes und war gezwungen, die drei ältesten Kinder aus der Schule zu nehmen. Sie mussten arbeiten und zum Familieneinkommen beitragen. Seinem Bruder und den Geschwistern seiner Frau, die alle in Berlin lebten, riet Sally noch Mitte der 30er Jahre davon ab, ihm nach Palästina zu folgen. Denn es wäre dort äußerst schwierig, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wie unerträglich die Zustände für Juden in Deutschland inzwischen geworden waren, konnte er sich wahrscheinlich nicht vorstellen.
Die Novemberpogrome von 1938 machten endgültig klar, dass es für Jüdinnen und Juden in Deutschland keine Zukunft mehr geben würde. Aber da war es für die meisten ohne Geld und Beziehungen schon zu spät, das Land zu verlassen. Fast alle Berliner Verwandten von Emma und Sally Gottfeld wurden deportiert und ermordet.
Sie selbst und ihre fünf Kinder, die alle heirateten und ihrerseits Kinder bekamen, überlebten in Palästina. Zwei Söhne gingen später in die USA. Emma starb 1961 in Haifa. Sally kehrte nach dem Tod seiner Frau nach Berlin zurück. Er starb 1964 und ist auf dem Jüdischen Friedhof an der Heerstraße beerdigt.
Die sieben Stolpersteine zur Erinnerung an diesen Teil der Familie liegen seit 2016 vor dem Haus Dortmunder Straße 3, ihrem letzten Berliner Wohnsitz. Zu der Verlegung reisten mehr als 20 Nachfahren aus den USA und Israel an. Darunter auch die jüngste Tochter Inge, die bei der Flucht aus Berlin 4 Jahre alt war.
Erinnerung von Gerhard Bunge
„Ich sah, dass der Deportationsvorgang von Berlinern jüdischen Glaubens keineswegs von absoluter Geheimhaltung umgeben war. Ich wohnte 1941 in der Jagowstraße und besuchte die Volksschule in der Levetzowstraße. Unauslöschlich wurde dem damals siebenjährigen Jungen die Demütigung ärmlich gekleideter Menschen ins Gedächtnis gebrannt. Mehrmals konnte ich nämlich auf dem Schulweg beobachten, wie braun uniformierte Männer diese Mitbürger mit Fußtritten und Gewehrkolbenstößen aus der Synagoge über die Straße auf Lastwagen trieben.“
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